Amtliche Leitsatz des Gerichts:
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil der Zivilkammer 85 des Landgerichts Berlin vom 20. September 2011 aufgehoben und das Urteil des Amtsgerichts Wedding vom 31. März 2011 abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.200 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. März 2010 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin nimmt die Beklagte aus eigenem und abgetretenem Recht eines Mitreisenden auf eine Ausgleichszahlung in Höhe von jeweils 600 € nach der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (im Folgenden: Fluggastrechteverordnung) in Anspruch.
Die Reisenden buchten bei der Beklagten für den 20. Januar 2010 eine Flugreise von Berlin-Tegel über Madrid nach San José (Costa Rica). Der Start des von der Beklagten durchgeführten Fluges von Berlin nach Madrid erfolgte mit einer Verspätung von eineinhalb Stunden, was dazu führte, dass die Reisenden den Anschlussflug nach San José nicht mehr erreichten, weil der Einsteigevorgang bereits beendet war, als sie an dem betreffenden Ausgang ankamen. Sie wurden erst am folgenden Tag nach San José befördert.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin das Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision hat Erfolg und führt zur antragsgemäßen Verurteilung der Beklagten.
I.
Das Berufungsgericht hat den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Ausgleichszahlungen nach Art. 4 Abs. 3, Art. 7 FluggastrechteVO wegen der Verspätung des Zubringerflugs und des dadurch bedingten Nichterreichens des Anschlussflugs verneint. Einem Fluggast, der einen Flug wegen eines verspäteten Zubringerflugs nicht erreiche, stehe kein Anspruch auf eine Ausgleichsleistung wegen Nichtbeförderung zu; Zubringerflug und Anschlussflug seien nach gefestigter Rechtsprechung grundsätzlich isoliert zu betrachten. Ein Anspruch wegen einer Beförderungsverweigerung komme auch nicht deshalb in Betracht, weil die Beklagte die Reisenden in Madrid trotz der verspäteten Ankunft noch hätte an Bord nehmen müssen. Selbst wenn sich das Flugzeug nach San José, wie die Klägerin behaupte, noch in der Parkposition am Flugsteig befunden habe, als die Reisenden den Ausgang erreichten, habe eine Beförderungsverweigerung nicht vorgelegen, da sich die Reisenden erst nach Abschluss des Einsteigevorgangs am Ausgang eingefunden hätten. Dies sei nicht mehr rechtzeitig gewesen.
II.
Diese Beurteilung hält zwar für sich genommen der revisionsrechtlichen Nachprüfung stand, der Klägerin stehen jedoch die geltend gemachten Ansprüche wegen der durch die Verspätung des Zubringerfluges verursachten erheblichen Verspätung bei der Ankunft am Endziel der Flugreise zu.
1. Die Fluggastrechteverordnung ist anwendbar, da die Reisenden auf einem Flughafen in Deutschland einen Flug, nämlich den ersten gebuchten Flug von Berlin nach Madrid, angetreten haben (Art. 3 Abs. 1 Buchst. a FluggastrechteVO).
2. Der verspätete Abflug dieses Flugs hat dazu geführt, dass die Reisenden ihr Endziel San José erst einen Tag nach der geplanten Ankunft erreicht haben. Dies begründet auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen den mit der Klage geltend gemachten Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c Satz 2 FluggastrechteVO; die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 Buchst. c FluggastrechteVO für eine Kürzung des Ausgleichsanspruchs liegen nicht vor.
a) Wie der Unionsgerichtshof in der Rechtssache C-402/07 (Urteil vom 19. November 2009, NJW 2010, 43 = RRa 2009, 282 - Sturgeon/Condor) auf die Vorlage des Bundesgerichtshofs entschieden und die Große Kammer mit Urteil vom 23. Oktober 2012 (C581/10 - Nelson/Lufthansa) bestätigt hat, können nicht nur die Fluggäste annullierter Flüge, sondern auch die Fluggäste verspäteter Flüge den in Art. 7 der Verordnung vorgesehenen Anspruch auf Ausgleich geltend machen, wenn sie infolge der Verspätung einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, weil sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftverkehrsunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen. Auf eine weitere Vorlage des Senats hat der Unionsgerichtshof mit Urteil vom 26. Februar 2013 (C-11/11 - Air France/Folkerts) ferner entschieden, dass dieser Anspruch nicht voraussetzt, dass die verspätete Erreichung des Endziels darauf beruht, dass sich der Abflug des verspäteten Flugs um die in Art. 6 Abs. 1 Buchst. a bis c FluggastrechteVO genannten Zeiten verzögert hat. Es genügt daher, dass der verspätete Abflug in Berlin dafür ursächlich war, dass die Reisenden den Anschlussflug von Madrid nach San José nicht mehr erreichen konnten und infolgedessen ihr Endziel erst mit eintägiger Verspätung erreicht haben.
b) Entgegen der Auffassung der Revision beruht dieses Ergebnis nicht darauf, dass die Flugreise von Berlin nach San José als ein einziger Flug anzusehen wäre. Flug im Sinne der Verordnung ist vielmehr, wie der Bundesgerichtshof im Einzelnen begründet hat, der Luftbeförderungsvorgang, mit dem ein Luftverkehrsunternehmen die Gesamtheit der Fluggäste dieses Luftbeförderungsvorgangs auf einer von ihm angebotenen und zur Buchung zur Verfügung gestellten Flugroute von dem Startflughafen zum Landeflughafen befördert (BGH, Urteil vom 13. November 2012 - X ZR 12/12, NJW 2013, 682 = RRa 2013, 19; Urteil vom 28. Mai 2009 - Xa ZR 113/08, NJW 2009, 2743). Der Flug von Berlin nach Madrid ist mithin im Ausgangspunkt von dem (Anschluss-)Flug von Madrid nach San José zu unterscheiden. Hiervon geht auch das Urteil des Unionsgerichtshofs vom 23. Februar 2013 aus (s. nur Rn. 16, 18).
Die Selbständigkeit der Flüge ändert indessen nichts daran, dass nach Art. 7 Abs. 1 Satz 2 FluggastrechteVO für die Beurteilung der Frage, ob die Verspätung den für eine Ausgleichszahlung vorausgesetzten Umfang erreicht hat und in welcher Höhe hierfür ein Ausgleich zu erbringen ist, nicht das Ziel des einzelnen Flugs, sondern der letzte Zielort oder (gleichbedeutend) das Endziel (Art. 2 Buchst. h FluggastrechteVO) maßgeblich ist, an dem der Fluggast infolge der Verspätung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt. Hiermit trägt die Verordnung dem Umstand Rechnung, dass die Annullierung oder Verspätung eines Flugs die einzelnen Fluggäste unterschiedlich stark beeinträchtigen kann, je nachdem, wie sie sich auf die Erreichung des individuellen Endziels ihrer Flugreise auswirkt (BGH, Urteil vom 13. November 2012, aaO Rn. 15)
c) Den von der Klägerin geltend gemachten Ausgleichsansprüchen steht es auch nicht entgegen, dass der Anschlussflug von Madrid nach San José, dem Endziel der Flugreise, selbst nicht verspätet war.
Zwar hat der Unionsgerichtshof in seinem Urteil vom 23. Februar 2013 gemeint, dass die Fluggastrechteverordnung "zwei unterschiedliche Fälle der Verspätung eines Flugs" betreffe (aaO Rn. 28) und aus der Definition des Endziels gefolgert, dass es im Fall eines Fluges mit Anschlussflügen für die Zwecke der in Art. 7 FluggastrechteVO vorgesehenen Ausgleichszahlung allein auf die Verspätung ankomme, die gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit am Endziel, d. h. dem Zielort des letzten Fluges des betreffenden Fluggasts, festgestellt werde (aaO Rn. 35). Er hat demgemäß in seiner Antwort auf die Vorlagefrage ausgeführt, dass die Zahlung nicht vom Vorliegen einer Verspätung beim Abflug und somit nicht von der Einhaltung der in Art. 6 FluggastrechteVO aufgeführten Voraussetzungen abhänge. Dies bedeutet jedoch nur, dass eine Abflugverspätung und insbesondere eine Abflugverspätung, die das in Art. 6 bezeichnete Ausmaß überschreitet, nicht notwendige Voraussetzung des Ausgleichsanspruchs ist, und darf nicht dahin missverstanden werden, dass die Abflugverspätung den Ausgleichsanspruch nicht begründen könnte, wenn der Anschlussflug zum Endziel für sich genommen nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt oder selbst nicht mit Verspätung ausgeführt worden ist. Vielmehr hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung zum Ausgleichsanspruch bei Verspätung gerade für den Fall des infolge einer solchen Verspätung verpassten Anschlussflugs weiterentwickelt. Das Urteil vom 23. Februar 2013 ändert mithin nichts daran, dass Fluggäste, die auf einem Flughafen auf dem Gebiet eines Mitgliedstaats der Union einen Flug antreten, eine Ausgleichszahlung beanspruchen können, wenn der verspätete Abflug dieses Flugs zur Folge hat, dass das Endziel mit einer Verspätung von mindestens drei Stunden erreicht wird. Der gleiche Anspruch besteht, wenn der Flug zwar pünktlich abgeht, aber - etwa wegen einer außerplanmäßigen Zwischenlandung - gleichwohl unpünktlich ankommt und dies wiederum dazu führt, dass das Endziel mit einer Verspätung von mindestens drei Stunden erreicht wird; auch dann liegt nach dem Urteil Air France/Folkerts ein verspäteter (Erst-)Flug vor. Hingegen kann eine Störung, die erst bei einem Anschlussflug auftritt, für den die Verordnung nach Art. 3 Abs. 1 nicht gilt, einen Ausgleichsanspruch auch dann nicht begründen, wenn sie dazu führt, dass das Endziel mit erheblicher Verspätung erreicht wird (BGH, Urteil vom 13. November 2012, aaO Rn. 17).
3. Der Einwand der Revisionsbeklagten, die Auslegung der Fluggastrechteverordnung durch die Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs sei von den der Europäischen Union zugewiesenen Kompetenzen nicht mehr gedeckt und deshalb von Verfassungs wegen nicht zu befolgen, führt zu keiner anderen Beurteilung.
a) Zunächst stellt sich im Streitfall nicht die Frage nach den Grenzen der Zuständigkeit der Europäischen Union, die hinsichtlich der Fluggastrechteverordnung und der in ihr geregelten Rechte und Pflichten der Luftverkehrsunternehmen und der Fluggäste außer Zweifel steht. Es ist auch nicht zweifelhaft, dass das Unionsrecht einen Ausgleichsanspruch für den Fall einer großen Verspätung vorsehen kann, so dass nicht in Betracht kommt, dass der Unionsgerichtshof durch die entsprechende Auslegung der Fluggastrechteverordnung in der Union nicht übertragene Kompetenzen der Mitgliedstaaten eingegriffen haben könnte.
b) Der Senat könnte daher die Fluggastrechteverordnung nicht anders auslegen, ohne dem Unionsgerichtshof die Frage der Vereinbarkeit seiner Rechtsprechung mit dem Primärrecht der Europäischen Union vorzulegen. Hierzu besteht jedoch keine Veranlassung.
In ihrem Urteil vom 23. Oktober 2012 (C-581/10 - Nelson/Lufthansa) hat die Große Kammer des Gerichtshofs die Gleichstellung der durch große Verspätungen betroffenen Passagiere mit den Passagieren annullierter Flüge nochmals ausführlich begründet. Sie hat insbesondere darauf hingewiesen, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Nr. iii der Verordnung dem Luftverkehrsunternehmen einen gewissen Spielraum einräume, dem Fluggast eines spät annullierten Fluges eine anderweitige Beförderung anbieten zu können, ohne ihm einen Ausgleich zahlen zu müssen. Auch wenn das Luftverkehrsunternehmen die ihm eingeräumten Möglichkeiten in vollem Umfang nutze, dürfe jedoch die Gesamtdauer der angebotenen anderweitigen Beförderung die planmäßige Dauer des annullierten Fluges nicht um drei Stunden oder mehr übersteigen; bei Überschreitung dieser Grenze seien dem Fluggast zwingend Ausgleichszahlungen zu leisten. Dagegen räume keine Bestimmung der Fluggastrechteverordnung ausdrücklich den Fluggästen verspäteter Flüge einen solchen Anspruch auf eine Ausgleichsleistung ein, auch wenn sie ihr Endziel erst drei Stunden nach der geplanten Ankunftszeit und noch später erreichten. Der (primärrechtliche) Grundsatz der Gleichbehandlung verlange indessen, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, sofern eine solche Behandlung nicht - wie hier nicht - objektiv gerechtfertigt sei (aaO Rn. 31-33).
Aus der - allerdings nicht maßgeblichen - Sicht des deutschen Rechts handelt es sich hierbei um eine durch das Primärrecht zusätzlich gestützte Analogie. Der Bundesgerichtshof hat es in seinem Vorlagebeschluss im Fall "Sturgeon" für möglich gehalten, dass eine erhebliche Verzögerung des Abflugs als Annullierung des Flugs anzusehen sein könne und den Ausgleichsanspruch wegen Annullierung auslöse, da eine nicht erkennbar vom Verordnungsgeber gewollte Schutzlücke aufträte, wenn auch eine erhebliche, im Vorlagefall mehr als 24 Stunden betragende Verspätung keinen Ausgleichsanspruch auslöse und es die Luftverkehrsunternehmen jedenfalls in gewissem Umfang in der Hand hätten, die Rechtsfolgen einer Annullierung durch - in der Dauer nicht begrenzte - Verschiebungen der Abflugzeit zu umgehen (BGH, Beschluss vom 17. Juli 2007 - X ZR 95/06, NJW 2007, 3437 Rn. 18 ff.). Diesem Ansatz ist der Unionsgerichtshof nicht gefolgt, weil die Verordnung eine zeitliche Grenze für Verspätungen nicht bestimmt hat, hat aber gleichwohl die Rechtsfolgen einer Annullierung in angepasster Form für anwendbar erklärt. Diese methodische Differenz ist nicht geeignet, den Vorwurf einer Missachtung der Bindung des Richters an das Gesetz zu begründen. Vielmehr hat sich der Unionsgerichtshof der richterlichen Aufgabe gestellt, diejenige Lücke zu füllen, die der Verordnungstext dadurch gelassen hat, dass er einerseits auch für erheblich verspätete Flüge keinen Ausgleichsanspruch vorsieht und andererseits kein objektives, dem Einfluss des betroffenen Luftverkehrsunternehmens entzogenes Kriterium dafür formuliert, wann eine Verspätung unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der Verordnung wie oder als eine Annullierung angesehen werden muss. Dementsprechend sieht nunmehr auch der Vorschlag der Kommission vom 13. März 2013 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rats zur Änderung der Fluggastrechteverordnung (COM (2013) 130 final) vor, für große Verspätungen in Art. 6 Abs. 2 und für verpasste Anschlussflüge in einem neuen Art. 6a zeitliche Grenzen für die verzögerte Ankunft am Endziel zu bestimmen, jenseits deren ein Ausgleichsanspruch nach Art. 7 FluggastrechteVO bestehen soll.
Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, wenn der Unionsgerichtshof in seinem Urteil vom 26. Februar 2013 (C-11/11 - Air France/Folkerts) bei verspäteten Flügen für den Ausgleichsanspruch nur die verspätete Ankunft in den Blick nimmt. Mit der Schaffung eines von der Verordnung nicht vorgesehenen Tatbestands der Ankunftsverspätung hat dies nichts zu tun. Vielmehr entspricht es dem Regelungskonzept der Fluggastrechteverordnung, dass es bei einem erheblich verspäteten Flug für die am Abflugort zu erbringenden Unterstützungsleistungen nach den Art. 8 und 9 auf die Abflugzeit, beim Ausgleichsanspruch aber - nicht anders als bei der Annullierung - auf die für das Maß der Beeinträchtigung maßgebliche Ankunftszeit ankommt.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 286 Abs. 1, 288 BGB, § 91 Abs. 1 ZPO.
Quelle: BGH, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&Datum=2013&Seite=1&anz=208&pos=59&nr=64558&linked=urt&Blank=1&file=dokument.pdf